Gerichtsentscheidung: Strafprozeßrecht



§ 140 StPO

Landgericht Kassel
2. Strafkammer
Beschluß vom 29.03.2011, 2 Qs 44/11

In der Strafsache

gegen     X
wegen     ....

Verteidiger: Rechtsanwalt Löwenstein, Baunatal

hier: Beschwerde gegen Ablehnung der Pflichtverteidigerbeiordnung

hat die 2. große Strafkammer des Landgerichts Kassel - als Beschwerdekammer -auf die Beschwerde des Angeklagten vom 21.03.2011 gegen den Beschluss des Amtsgerichts Kassel vom 01.03.2011 beschlossen:

Die Beschwerde wird auf Kosten des Angeklagten als unbegründet verworfen.

Gründe:

Die Beschwerde ist zulässig, jedoch unbegründet.

Das Amtsgericht hat mit zutreffender Begründung die Beiordnung eines Pflichtverteidigers abgelehnt. Die Beschwerde gibt lediglich zu folgenden Anmerkungen Anlass:

Die Schwere der Tat lässt die Bestellung eines Pflichtverteidigers gem. § 140 Abs. 2 StPO nicht als geboten erscheinen. Die Schwere der Tat richtet sich vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung, sodass in der Regel eine Straferwartung von einem Jahr Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers gibt (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 140 Rn. 23 m.w.N.). Zutreffend weist die Beschwerde zwar darauf hin, dass daneben auch etwaige sonstige schwerwiegende Nachteile, die der Angeklagte infolge einer Verurteilung zu gewärtigen hat, insbesondere ein drohender Bewährungswiderruf, zu berücksichtigen sind (a.a.O., Rn. 25 m.w.N.).

Unzutreffend meint der Beschwerdeführer jedoch, ein solcher schwerwiegender Nachteil eines Angeklagten liege bei jedem drohenden Bewährungswiderruf vor, gleich wie hoch die zu vollstreckende Strafe ist. Die Kammer vertritt weiterhin die Auffassung, dass zwar auch bei einer Verurteilung zu weniger als einem Jahr Freiheitsstrafe die Beiordnung eines Verteidigers geboten sein kann. Das gilt allerdings nur, wenn als Folge dieser Verurteilung der Widerruf einer Strafaussetzung in anderer Sache droht und die Summe der im neuen Strafverfahren zu erwartenden Freiheitsstrafe und der von einem möglichen Widerruf der Strafaussetzung betroffenen Strafe ein Jahr erreicht oder darüber liegt (zuletzt LG Kassel, 2 Qs 33/11 unter Verweis auf OLG Dresden, 01.07.2005, Az.: 2 Ss 173/05, NStZ-RR 2005, 318, zitiert nach juris Rn. 8; OLG Brandenburg, Beschluss vom 07.11.2007, Az.: 1 Ss 90/07, zitiert nach juris Rn. 5). Denn es ist nicht einsichtig, weshalb in demjenigen Verfahren der von einem möglichen Widerruf der Strafaussetzung betroffenen Strafe ein Pflichtverteidiger mangels Schwere der Tat nicht zu bestellen war, dies im neuen Strafverfahren allerdings zur Bestellung eines Pflichtverteidigers soll führen können, allein weil der Widerruf dieser Strafe droht. Warum eine Tat als schwer beurteilt werden soll, wenn der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung droht, nicht allerdings, als sie zur Aburteilung stand, ist nicht nachvollziehbar.

Dementsprechend ist auch der vom Beschwerdeführer angeführte Begründungsansatz im Grunde richtig, dass der Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe wegen einer in der Bewährungszeit begangenen Straftat in großem Maße davon abhängt, ob der Angeklagte in dem neuen Verfahren zu einer Geld- oder Bewährungsstrafe oder aber zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt wird, sodass diese Fernwirkung der Rechtsfolgenentscheidung das in § 140 Abs. 2 StPO vorausgesetzte Gewicht verleiht. Das wiederum kann allerdings nur dann gelten, wenn das dem Angeklagten erwartende "Gesamtübel" jedenfalls eine Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr zum Gegenstand hat. Andernfalls käme der zuvor begangenen Tat abermals unterschiedliches Gewicht zu, je nachdem, ob sie unmittelbar zur Aburteilung steht oder ob in einem späteren Verfahren der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung dieser Tat droht.

Eine Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr ist im vorliegenden Verfahren auch unter Einbeziehung eines drohenden Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Urteil des AG Kassel vom 09.10.2008 (Az.: 9811 Js 28415/08 - 241 Ds) jedoch nicht zu erwarten und wird vom Beschwerdeführer auch nicht ernstlich behauptet. Mit Urteil des AG Kassel vom 09.10.2008 wurde der Angeklagte zu einer Bewährungsfreiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Im hiesigen Verfahren steht lediglich ein Eingehungsbetrug hinsichtlich der Bestellung von Waren im Wert von insgesamt 47,78 EUR im Raum (Rechung der Fa. D. vom 19.11.2009, Bl. 3 d.A.). Selbst unter Berücksichtigung, dass der Angeklagte auch darüber hinaus mehrfach wegen Betrugs vorbestraft ist, kann eine Freiheitsstrafe - ob mit oder ohne Bewährung - von mindestens einem Jahr nicht prognostiziert werden.

Auch aus Gründen der Waffengleichheit ist dem Angeklagten kein Pflichtverteidiger zu bestellen.

Allein der Umstand, dass ein Angeklagter durch einen Verteidiger vertreten wird, ein anderer hingegen nicht, vermag für sich allein noch nicht die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung zu begründen (zutreffend LG Kiel, Beschluss vom 10.10.2008, Az.: 32 Qs 146/08, StV 2009, 236 zitiert nach juris Rn. 2).

Gleichwohl kann sich im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände ein Fall notwendiger Verteidigung ergeben (LG Kiel ebd.). Ein derartiger Fall ist vor allem dann gegeben, wenn davon auszugehen ist, dass sich die Angeklagten wechselseitig beschuldigen werden (LG Kiel, ebd.; LG Oldenburg, StV 2001, 107, zitiert nach juris; LG Kassel, 3 Qs 27/10). Denn in einem solchen Fall liegen widerstreitende Interessen vor, die es aus Gründen der Waffengleichheit rechtfertigen, dem anderen Mitangeklagten einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Das gilt jedenfalls dann, wenn dem Mitangeklagten ein Pflichtverteidiger beigeordnet wurde (LG Kassel, 3 Qs 27/10).

Dies könnte freilich anders zu beurteilen sein, wenn einer der Angeklagten wie hier keinen Pflichtverteidiger, sondern lediglich einen Wahlverteidiger hat. In einem solchen Fall könnte die vom Amtsgericht befürchtete Situation eintreten, dass einem Mitangeklagter, der zunächst nur einen Wahlverteidiger hat, nach der Beiordnung des Pflichtverteidigers für den anderen Angeklagten ebenfalls ein Pflichtverteidiger zu bestellen wäre. Letztlich würde dies dazu führen, dass beiden Angeklagten ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, obwohl für sich genommen bei keinem der Angeklagten eine Bestellung notwendig gewesen wäre. Die Kammer braucht dies allerdings nicht abschließend zu entscheiden. Denn ein besonderer Umstand dergestalt, dass sich die Angeklagten gegenseitig beschuldigen könnten, liegt nicht vor, wobei dies ohnehin lediglich hinsichtlich des angeklagten Eingehungsbetrugs in Betracht käme.

Die Mitangeklagte P. ist zwar durch Rechtsanwalt W. verteidigt und hat über diesen bereits mit Schreiben vom 07.02.2011 eine Einlassung abgegeben (Bl. 51 d.A.). Darin bezichtigt sie den Beschwerdeführer aber gerade nicht der Tatbegehung des Eingehungsbetrugs. Sie gibt vielmehr an, eine Tatbegehung durch den Beschwerdeführer nicht beurteilen zu können. Auch seitens des Beschwerdeführers sind bislang Beschuldigungen der Angeklagten P. nicht erfolgt. Dass aus der Einlassung der Angeklagten möglicherweise zu schließen sein könnte, dass letztlich allein der Beschwerdeführer als Täter in Betracht kommen könnte, genügt nicht. Denn das Tatbestreiten ist legitimes Verteidigungsmittel selbst dann, wenn dadurch der Verdacht notwendig auf jemand anderes gelenkt wird. In den Fällen der Tatbegehung durch Mehrere erhöht das Tatbestreiten jedes einzelnen letztlich zwangsläufig den Verdacht zu Lasten der anderen. Darin liegen noch keine widerstreitenden Interessen.

Auch weitere Umstände, die eine sachgerechte Verteidigung des Beschwerdeführers beeinträchtigen könnten, liegen nicht vor. Allein der - insoweit nicht einmal sonderlich umfangreiche - Akteninhalt vermag die Unfähigkeit zur Selbstverteidigung nicht zu begründen. Der Angeklagte sieht sich vorab auch nicht einer besonders umfangreichen Beweiserhebung ausgesetzt, insbesondere aufgrund einer Vielzahl von Zeugenaussagen im Ermittlungsverfahren. Insoweit ist auch keine umfassende Akteneinsicht des Beschwerdeführers erforderlich, um sich angemessen zu verteidigen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.