Gerichtsentscheidung: Strafrecht



Art. 13 GG, §§ 102, 105 StPO

Rechtswidrige Durchsuchungsanordnung

Bundesverfassungsgericht
Beschluß vom 06.05.2008, 2 BvR 384/07 (StV 2008, 393)

Beschluß

In dem Verfahren

über die Verfassungsbeschwerde

gegen

a) den Beschluss des Landgerichts Kassel vom 25. Januar 2007 - 6 Qs 23/07 -,
b) den Beschluss des Amtsgerichts Kassel vom 30. November 2006 - 20 Gs-2630 Js 34702/06 -

hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Richter Broß, die Richterin Osterloh und den Richter Mellinghoff am 6. Mai 2008 einstimmig beschlossen:

    Die Beschlüsse des Amtsgerichts Kassel vom 30. November 2006 - 20 Gs-2630 Js 34702/06 - und des Landgerichts Kassel vom 25. Januar 2007 - 6 Qs 23/07 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 13 Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Kassel zurückverwiesen.

    Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

A.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die strafprozessuale Durchsuchung einer Rechtsanwaltskanzlei.

I.

1. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt. In einer familienrechtlichen Unterhaltssache schloss er für die von ihm vertretene Ehefrau in einer mündlichen Verhandlung vor dem Familiengericht am 5. Mai 2006 einen Vergleich, bei dem sich der auf der Gegenseite stehende Ehemann zur Leistung von monatlichen Zahlungen verpflichtete. In der Folgezeit blieben die vereinbarten Zahlungen aus, weil bereits am 3. Mai 2006 über das Vermögen des Ehemannes das Insolvenzverfahren eröffnet worden war. Im Auftrag seiner Mandantin erstattete der Beschwerdeführer gegen den Ehemann Strafanzeige wegen des Verdachts des Prozess- und Eingehungsbetruges, weil jener anlässlich des Vergleichsabschlusses die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht mitgeteilt habe. Die Staatsanwaltschaft stellte das Ermittlungsverfahren ein, weil sich aus der gerichtlichen Familienakte ergab, dass das Gericht dem Beschwerdeführer noch vor der mündlichen Verhandlung per Telefax einen Schriftsatz des Ehemannes vom 1. Mai 2006 zugeleitet hatte, in dem die Einleitung des Insolvenzverfahrens mitgeteilt wurde.

2. Die Staatsanwaltschaft leitete nunmehr ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen falscher Verdächtigung ein. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 30. November 2006 ordnete das Amtsgericht die Durchsuchung der Kanzleiräume des Beschwerdeführers an. Gesucht werden sollte nach der Handakte aus dem vom Beschwerdeführer begleiteten familiengerichtlichen Verfahren. Es bestehe der Verdacht, dass der Beschwerdeführer in Kenntnis des Schriftsatzes der Gegenseite wider besseres Wissen die Gegenpartei des Prozessbetruges bezichtigt habe. In der Handakte müsse sich das Faxschreiben des Familiengerichts finden, mit dem ihm der Schriftsatz der Gegenseite zugestellt worden sei. Eine Strafbarkeit sei auch gegeben, wenn der Beschwerdeführer ohne Prüfung seiner Handakte die Anzeige ins Blaue hinein erstattet hätte. Die Durchsuchung wurde am 4. Januar 2007 vollzogen; das aufgefundene Fax und die Folgeseiten wurden nach Ablichtung sichergestellt.

Es stellte sich heraus, dass das Familiengericht dem Beschwerdeführer lediglich die Anlagen zu dem Schriftsatz der Gegenseite zugefaxt hatte, nicht aber den Schriftsatz mit dem Hinweis auf das Insolvenzverfahren selbst.

3. Mit der Beschwerde machte der Beschwerdeführer geltend, der Durchsuchungsbeschluss sei grob unverhältnismäßig gewesen. Ein Telefonat oder eine richterliche Aufforderung zur Stellungnahme hätten genügt, um den Sachverhalt lückenlos aufzuklären. Er trete seit Jahren vor dem Gericht auf und habe sich in jedem Fall kooperativ gezeigt. Bereits dem Versendeprotokoll in der familiengerichtlichen Verfahrensakte hätte sich der unvollständige Faxversand entnehmen lassen, weil die Zahl der übermittelten Seiten nicht mit derjenigen des Schriftsatzes samt Anlagen übereingestimmt habe. Jedenfalls sei in der mündlichen Verhandlung die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht zur Sprache gekommen. Mit der Durchsuchung sei auf vertrauliche Mandantenunterlagen zugegriffen worden, ohne dass es um einen schwerwiegenden Tatverdacht gegangen sei.

Mit dem angegriffenen Beschluss vom 25. Januar 2007 verwarf das Landgericht die Beschwerde als unbegründet. Ein Tatverdacht habe bestanden; denn die Übersendung des Schriftsatzes vom 1. Mai 2006 an den Beschwerdeführer sei in der Gerichtsakte dokumentiert. Die Tatsache, dass entgegen der richterlichen Verfügung neben dem gerichtlichen Anschreiben nur die Anlagen zum Schriftsatz, nicht aber dieser selber übermittelt worden sei, sei den Akten nicht zu entnehmen und könne auch nicht ohne weiteres aus dem Umstand gefolgert werden, dass insgesamt nur 11 statt 15 Seiten übermittelt wurden; denn welche Seiten außer dem gerichtlichen Anschreiben dies waren, sei nicht erkennbar. Die Durchsuchung stehe auch in einem angemessenen Verhältnis zur Stärke des Tatverdachts und zur Bedeutung der aufzuklärenden Straftat. Zwar berühre die Durchsuchung bei einem Rechtsanwalt Art. 12 GG. An der Aufklärung und Verfolgung einer durch einen Rechtsanwalt in Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit begangenen falschen Verdächtigung bestehe jedoch ein überwiegendes Interesse der Allgemeinheit. Alternative Ermittlungshandlungen seien nicht möglich gewesen, es sei nicht davon auszugehen, dass der Beschuldigte die gesuchte Handakte auch ohne Vorliegen der Durchsuchungsanordnung herausgesucht und übergeben hätte.

II.

Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 13 und Art. 12 GG.

Die Durchsuchung stehe nicht in einem angemessenen Verhältnis zum Straftatverdacht; denn es sei nicht um ein Verbrechen, sondern "nur" um den Tatbestand des § 164 StGB gegangen. Die Ermittlungen hätten einfacher, schneller und weniger belastend im Wege einer Anhörung oder Vernehmung zu einem Ergebnis geführt. Die Beeinträchtigung sei schwerwiegend, da er vertrauliche Mandantenunterlagen habe herausgeben müssen und sich Durchsuchungsmaßnahmen in einer Kleinstadt schnell herumsprächen.

Das Land Hessen hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Staatskanzlei ist der Auffassung, dass die Durchsuchung verfassungsmäßig gewesen sei. Für die Ermittlungen sei es auf den möglichst konkret zu bestimmenden Zeitpunkt der Kenntniserlangung von dem Telefax angekommen. Durch eine einfache Anfrage wäre der Beschwerdeführer vorgewarnt worden und der Ermittlungserfolg wäre gefährdet gewesen. Die Durchsuchung sei verhältnismäßig gewesen, weil es um die Verfolgung einer Straftat gegangen sei, die mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren geahndet werden könne.

Dem Bundesverfassungsgericht hat die staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakte vorgelegen.


B.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist in einem die Zuständigkeit der Kammer nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG begründenden Sinne offensichtlich begründet. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 und 2 GG.

I.

1. Mit einer Durchsuchung wird schwerwiegend in die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) eingegriffen. Auch beruflich genutzte Räume werden durch das Grundrecht geschützt (vgl. BVerfGE 32, 54 <69 ff.> [BVerfG 13.10.1971 - 1 BvR 280/66]; 42, 212 <219> [BVerfG 26.05.1976 - 2 BvL 13/75]; 44, 353 <371> [BVerfG 24.05.1977 - 2 BvL 11/74]; 76, 83 <88>; 96, 44 <51>; 97, 228 <265> [BVerfG 28.01.1998 - 2 BvF 3/92]). Dem erheblichen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Betroffenen entspricht ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Durchsuchung muss im Blick auf den bei der Anordnung verfolgten gesetzlichen Zweck Erfolg versprechend sein. Ferner muss gerade diese Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung der vorgeworfenen Tat erforderlich sein; dies ist nicht der Fall, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen. Schließlich muss der jeweilige Eingriff in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Tat und der Stärke des Tatverdachts stehen (vgl. BVerfGE 96, 44 <51> [BVerfG 27.05.1997 - 2 BvR 1992/92]).

Richtet sich eine strafrechtliche Ermittlungsmaßnahme gegen einen Berufsgeheimnisträger in der räumlichen Sphäre seiner Berufsausübung, so bringt dies darüber hinaus regelmäßig die Gefahr mit sich, dass unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG stehende Daten von Nichtbeschuldigten, etwa den Mandanten eines Rechtsanwalts, zur Kenntnis der Ermittlungsbehörden gelangen, die die Betroffenen in der Sphäre des Berufsgeheimnisträgers gerade sicher wähnen durften. Dadurch werden nicht nur die Grundrechte der Mandanten berührt. Der Schutz der Vertrauensbeziehung zwischen Anwalt und Mandant liegt auch im Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen und geordneten Rechtspflege (vgl. BVerfGE 113, 29 <46 ff.>). Diese Belange verlangen eine besondere Beachtung bei der Prüfung der Angemessenheit einer strafprozessualen Zwangsmaßnahme.

In dem Durchsuchungsbeschluss muss zum Ausdruck kommen, dass der Ermittlungsrichter die Eingriffsvoraussetzungen selbständig und eigenverantwortlich geprüft hat (vgl. BVerfGE 103, 142 <151 f.> [BVerfG 20.02.2001 - 2 BvR 1444/00]). Es ist zu verlangen, dass ein dem Beschuldigten angelastetes Verhalten geschildert wird, das den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt. Die wesentlichen Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes, die die Strafbarkeit des zu subsumierenden Verhaltens kennzeichnen, müssen berücksichtigt werden (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 7. September 2006 - 2 BvR 1219/05 -, NJW 2007, S. 1443 f.).

2. Weder die Begründung des angegriffenen Durchsuchungsbeschlusses noch die Beschwerdeentscheidung lassen erkennen, dass die von Verfassungs wegen zu fordernden Voraussetzungen einer Wohnungsdurchsuchung gegeben waren.

a) Schon die Erforderlichkeit der Durchsuchung ist nicht gegeben. Die Übermittlung des gegnerischen Schriftsatzes an den Beschwerdeführer durch das Familiengericht als solche war bereits durch das bei der Gerichtsakte befindliche Sendeprotokoll nachgewiesen. Ziel der weiteren Ermittlungen konnte nur noch sein, entlastende Gesichtspunkte aufzufinden, die etwa darauf hindeuteten, dass der Beschwerdeführer das Fax nicht zur Kenntnis genommen oder nicht vollständig erhalten haben könnte. Für diesen Nachweis war eine polizeiliche Durchsuchung der Kanzleiräume aber nicht erforderlich. Es wäre Sache des Beschwerdeführers gewesen, das erhaltene, unvollständige Telefax vorzulegen. Es ist nicht ersichtlich, weshalb dies nicht ausgereicht hätte. Eine Manipulation an dem erhaltenen Originalfax seitens des Beschwerdeführers, etwa durch Entfernen der vier Seiten des Schriftsatzes, wäre wegen der laufenden Nummerierung des Faxes nicht ohne weiteres möglich gewesen und hätte eine erhebliche kriminelle Energie erfordert. Anhaltspunkte für eine Verdunkelungsgefahr in diesem Sinne zeigen die angegriffenen Beschlüsse nicht auf.

b) Auch die Angemessenheit der Durchsuchung ist nicht tragfähig begründet. Die angegriffenen Entscheidungen bejahen die Verhältnismäßigkeit mit formelhaften Wendungen und setzen sich ausschließlich mit der Schwere des Tatverdachts, nicht aber der Schwere der Straftat und der zu erwartenden Strafe auseinander, was aber für eine vollständige Prüfung der Angemessenheit erforderlich wäre.

Der Hinweis auf den Strafrahmen des § 164 Abs. 1 StGB (Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren) allein reicht nicht aus, um die Schwere der verfolgten Straftat zu begründen. Vielmehr muss der Ermittlungsrichter prüfen, ob nach dem Stand der Ermittlungen auch im konkreten Falle die Verurteilung zu einer mehr als geringfügigen Sanktion in Betracht kommt.

II.

Die angegriffenen Entscheidungen werden gemäß § 95 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen, das noch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben wird.


Anmerkungen:

... denn sie wissen nicht, was sie tun.

Der Umgang der Kasseler Strafjustiz mit den von der Verfassung verbürgten Grundrechten gibt Anlaß zur Sorge. Obgleich das Bundesverfassungsgericht vor nicht allzu langer Zeit eine Entscheidung derselben Strafkammer des Landgerichts Kassel in einer Durchsuchungsbeschwerdesache aufgehoben hatte (Beschluß vom 08.04.2004, 2 BvR 1821/03), läßt die 6. Strafkammer ungeachtet der Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) jeden Lerneffekt vermissen.

Allein in den Jahren 2004-2008 sind - soweit veröffentlicht - mindestens vier Entscheidungen von Strafkammern des Landgerichts Kassel wegen Verletzung von Grundrechten aufgehoben worden (Beschluß vom 08.04.2004, 2 BvR 1821/03; Beschluß vom 26.09.2005, 2 BvR 1651/03; Beschluß vom 26.10.2006, 2 BvR 67/06). Unzählige Male hat das Bundesverfassungsgericht die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Durchsuchungsanordnungen konkretisiert (vgl. aus den vergangenen Jahren nur: Beschlüsse vom 08.05.2008, 2 BvR 1801/06; 04.03.2008, 2 BvR 103/04; 21.08.2008, 2 BvR 1219/07; 03.07.2006, 2 BvR 2030/04; 14.06.2006, 2 BvR 537/05). Die Möglichkeit, daß der Fehler innerhalb der Justiz zu suchen sein könnte, scheint für manchen Richter nicht vorstellbar. Dabei belegt nicht zuletzt der vorliegende Beschluß des Bundesverfassungsgerichts erneut, daß die Strafkammer zu einer justizkritischen Betrachtung allen Anlaß gehabt hätte. Verantwortung und Schuld für Nachlässigkeiten und Mißgriffe der Justiz auf den Bürger abzuwälzen, "das ist freilich angenehmer und dazu noch viel bequemer" (Wilhelm Busch).

Berücksichtigt man, daß eine Verfassungsbeschwerde nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn die Grundrechtsverletzung bereits in der Durchsuchungsbeschwerde gegenüber dem Fachgericht substantiiert gerügt worden ist, wird deutlich, welchen Stellenwert die 6. Strafkammer grundrechtlichen Erwägungen und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts offenbar beimißt. Eine einmalige Korrektur durch das Bundesverfassungsgericht hat noch nichts Anstößiges. Ein Gericht, das sich jedoch regelmäßig aus Karlsruhe belehren lassen muß, hat die Aufgabe, die eigene Rechtsprechung kritisch zu überprüfen. Eine offensichtlich fehlgehende Rechtsanwendung unter Nichtbeachtung der ständigen Rechtsprechung, zumal der verbindlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, ist einer Beanstandung durch die Dienstaufsicht nicht entzogen (vgl. Arndt, DRiZ 1978, 78). Die Tatsache, daß nur eine sehr geringe Anzahl letztinstanzlicher Beschlüsse der Strafkammern zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung gestellt wird, läßt eine große Dunkelziffer an grundrechtswidrigen Entscheidungen besorgen.








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