§§ 454, 463 StPO, §§ 67d, 67e StGB
Auch im Übeprüfungsverfahren nach §§ 67d, 67e StGB ist der Betroffene stets
mündlich anzuhören.
Oberlandesgericht Frankfurt am Main
3. Strafsenat
Beschluß vom 25.05.2010, 3 Ws 445/10
In der Strafvollstreckungssache
gegen Herrn X
Verteidiger: Rechtsanwalt Frank Löwenstein, 34225 Baunatal
wegen: schweren Raubes, Fortdauer der Unterbringung,
hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main auf die sofortige
Beschwerde des Verurteilten gegen den
Beschluss der 4. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kassel vom
15.04.2010
am 25. Mai 2010 beschlossen:
Gründe
Das Landgericht Fulda verhängte gegen den Verurteilten am 28.02.2008 wegen
versuchten schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung eine
Freiheitsstrafe von 3 Jahren und ordnete die Unterbringung in einer
Entziehungsanstalt an.
Derzeit wird die Maßregel vollstreckt. Die Hälfte der Strafe war am 03.03.2009,
2/3 waren am 02.09.2009 vollstreckt. Die Höchstfrist für die Unterbringung ist
auf den 03.09.2010 notiert.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat die Strafvollstreckungskammer die Fortdauer
der Unterbringung angeordnet. Zuvor hatte sie den Verurteilten - wie vor den
vorangegangenen Fortdauerentscheidungen - nicht mündlich angehört, sondern ihm
über seinen Pflichtverteidiger, dem die Stellungnahme der Klinik vom 17.02.2010
übermittelt wurde, lediglich durch Anschreiben vom 25.02.2010 Gelegenheit zur
(schriftlichen) Stellungnahme binnen 10 Tagen gewährt und zwar zu der Absicht
der Kammer, "im Rahmen der Überprüfung gemäß § 67 e StGB entsprechend dem Antrag
der Staatsanwaltschaft und der Stellungnahme der Klinik die Fortdauer der
Unterbringung anzuordnen". In dem Schreiben heißt es weiter: "Sollten sie
zusätzlich auf einer persönlichen Anhörung durch das Gericht bestehen, teilen
Sie dies bitte binnen gleicher Frist schriftlich mit." Mit Schriftsatz vom
26.03.2010 beantragte der Verteidiger die Anberaumung eines Anhörungstermins.
Dies lehnte die Kammer mit Verfügungen vom 30.03.2010 und 08.04.2010 ab mit der
wesentlichen Begründung, dass kein Erörterungsbedarf bestehe, zumal das Ergebnis
der Klinikstellungnahme weder vom Verurteilten noch vom Verteidiger in Frage
gestellt werde.
Auf die form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde war der
angefochtene Beschluss aufzuheben. Denn er leidet an einem wesentlichen
Verfahrensmangel.
Gemäß § 454 I 3 StPO, auf den § 463 III 1 StPO verweist, ist der Verurteilter
vor einer Entscheidung über eine Aussetzung der restlichen Freiheitsstrafe und
der Unterbringung zur Bewährung zwingend mündlich anzuhören. Mit der
angefochtenen Fortdauerentscheidung hat die Kammer zugleich die gesetzlich
mögliche Aussetzung von Restfreiheitsstrafe (die hierfür erforderliche
Einwilligung liegt spätestens in der in dem Antrag auf Bestimmung eines
Anhörungstermins) und - wie sich schon aus dem Wortlaut des § 67e I StGB ergibt
- der Unterbringung abgelehnt, so dass die Vorschrift einschlägig ist.
Nur in ganz bestimmten Fällen kann von einer mündlichen Anhörung abgesehen
werden. Außer unter den - hier nicht vorliegenden - Voraussetzungen des § 454 I 4
StPO ist eine mündliche Anhörung u. a. (zu weiteren, hier ersichtlich nicht
einschlägigen Fällen vgl. Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl., § 454 Rn 31, 32) nur
dann entbehrlich, wenn eine Beeinflussung der Entscheidung durch sie von
vorneherein ausgeschlossen erscheint und ihre Durchführung daher zur
inhaltslosen Formalie ohne jeden Aufklärungswert würde (Meyer-Goßner, StPO, 52.
Aufl., § 454 Rn 24 mwN). Dies ist indessen nur anzunehmen, wenn der Verurteilte
auf seiner Anhörung verzichtet (vgl. BGH, NJW 2000, 16663, 1664 = NStZ 2000,
279; Senat. Beschluss vom 24.09.2001 - 3 Ws 310/01 -st. Rspr.), bzw. diese
verweigert (vgl. OLG Düsseldorf, NStZ 1987), weil eine Anhörung gegen den Willen
des Verurteilten nicht erzwungen werden kann (Senat, Beschl. v. 10.03.2008 - 3
Ws 261/08). Ferner, wenn aus Rechtsgründen, ohne dass es der Stellung einer
Kriminalprognose bedarf, eine bedingte Entlassung nicht in Betracht kommt (vgl.
Senat, Beschl. v. 26.04.2010 - 3 Ws 361/10; OLG Düsseldorf, VRS 81, 193). Beide
genannten Fälle liegen hier aber nicht vor. Der Verurteilte hat ausdrücklich auf
seiner Anhörung bestanden, die Kammer hat die Fortdauerentscheidung auf eine
ihrer Ansicht nach (derzeit) ungünstige Kriminalprognose gestützt.
Im Übrigen ist hingegen nach der gesetzgeberischen Wertung in § 454 I 3 StPO der
persönliche Eindruck der Kammer vom Verurteilten prognostisch unverzichtbar
(vgl. Senat aaO). Insbesondere kann es nicht darauf ankommen, ob es nach
Aktenlage ausgeschlossenen sein könnte, dass die Strafvollstreckungskammer die
Voraussetzungen der §§ 57 I Nr. 2, 67d II StGB bejaht. Eine derartige Ausnahme
vom Anhörungserfordernis würde den Regelungsgehalt des § 454 I 3 StPO nämlich
unangemessen aushöhlen (Senat, NStZ-RR 1997, 28; Beschl. v. 07.07.2004 - 3 Ws
735/04 -st. Rspr.). Dass der Verteidiger bislang schriftlich keine Einwände
gegen die Stellungnahme erhoben, sondern erklärt hat, der Verurteilte sei mit
der in einem Gespräch mit seinem Bezugstherapeuten perspektivisch in Aussicht
gestellten Entlassung im Herbst 2010 "grundsätzlich einverstanden" und nicht auf
eine "sofortige Entlassung fixiert", macht die Anhörung entgegen der Ansicht der
Kammer ebenfalls nicht entbehrlich. Dies schon deshalb, weil der Verurteilte
diese Einschätzung jederzeit ändern und sich Angriffe gegen die Stellungnahme
der Klinik, namentlich deren Tatsachengrundlage seiner mündlichen Anhörung
vorbehalten kann.
Die unterbliebene mündliche Anhörung des Verurteilten hat nach ständiger
Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschlüsse vom 17.04.1998 3 Ws 322-324/98 und
vom 24.09.2001 - 3 Ws 910/01) die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und
die Zurückverweisung der Sache an die Strafvollstreckungskammer zur erneuten
Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, zur Folge.
Anmerkungen:
Zum Zeitpunkt der hier ergangenen Entscheidung ist der Betroffene aufgrund
seiner Drogenabhängigkeit seit fast zwei Jahren in einer Entziehungsanstalt
untergebracht. Er ist staatenlos, hat nie eine Schule besucht und ist - wie in
den Gerichtsakten dokumentiert - Analphabet. Der zuständige Richter hatte im
Rahmen nach halbjährigen Überprüfung der Maßnahme nach §§ 67d, 67e StGB vor der
hier ergangenen Entscheidung bereits dreimal die Fortdauer der Unterbringung
beschlossen. In keinem Fall hat der Richter den Betroffenen persönlich angehört.
Das Landgericht Kassel bedient sich zur Vorbereitung der
Überprüfungsentscheidung
eines vorgefertigen Formulars
. Der Untergebrachte erhält Gelegenheit, schriftlich zu der Fortdauer der
Unterbringung Stellung zu nehmen, wobei ihm bereits vor seiner Äußerung das
voraussichtliche Ergebnis der Überprüfung mitgeteilt wird: nämlich, daß das
Gericht beabsichtige, dem Antrag der Staatsanwaltschaft zu entsprechen und die
Fortdauer der Unterbringung zu beschließen. Ob die Untergebrachten - regelmäßig
suchtkranke oder psychisch kranke Menschen - intellektuell oder im Hinblick auf
ihre Lese- und Schreibfertigkeiten überhaupt in der Lage sind, das Anschreiben
des Gerichts zu verstehen, berücksichtigt die Strafvollstreckungskammer nicht.
Fast schon abwehrend heißt im letzten Satz der Verfügung, der Unterbrachte möge
es schriftlich mitteilen, wenn er "zusätzlich" - also neben der schriftlichen
Äußerung - auf eine Anhörung "bestehe". Der Sinn dieser Aufforderung erschließt
sich im Hinblick auf die Haltung der Kammer, wonach eine mündliche Anhörung auch
auf Antrag des Betroffenen nicht durchzuführen sei, nicht. Ein
Pflichtverteidiger wird den Betroffenen von Amts wegen regelmäßig nicht
beigeordnet, selbst wenn es sich bei dem Untergebrachten - wie vorliegend - um
einen Analphabeten handelt. Im Gegenteil: als der mittellose Untergebrachte im
vorliegenden Fall einen Verteidiger beauftragte und beantragte, ihm diesen als
Pflichtverteidiger beizuordnen, wehrte sich das Gericht "mit Händen und Füßen".
In einem mehrseitigen Beschluß wurde der Antrag zurückgewiesen, da kein Fall der
notwendigen Verteidigung gegeben sei. Auf den aktenkundigen Analphabetismus des
Untergebrachten ging das Gericht nicht ein. Auf die Beschwerde des Betroffenen
fertigte das Gericht einen ausführlichen Nichtabhilfebeschluß, mit dem es
versuchte zu begründen, weshalb der Untergebrachte trotz seines Analphabetismus
in der Lage sei, sich selbst zu verteidigen. Die Kammer hielt dem Untergebrachte
entgegen, er könne sich, wenn er etwas zu sagen habe, zu Protokoll des Gerichts
erklären - nicht berücksichtigend, daß die Entziehungsanstalt 14 bzw. 25
Kilometer von den nächsten beiden Amtsgerichten entfernt liegt und keine
Sonderfahrten für Insassen organisiert werden können, die sich gegenüber dem
Gericht erklären möchten.
Nach § 463 Abs. 1 StPO gelten die Vorschriften über die Strafvollstreckung für
die Vollstreckung von Maßregeln der Besserung und Sicherung sinngemäß. Danach
gilt § 454 Abs. 1 StPO, der in seinem Satz 3 die mündliche Anhörung für zwingend
erklärt, auch für das Verfahren nach § 67e Abs. 2 StGB. Zwar ist § 67e StGB
nicht ausdrücklich in § 463 Abs. 3 StGB genannt, der auf § 454 Abs. 1 StPO und
mithin auf die Anhörungspflicht verweist. Allerdings nennt § 463 Abs. 3 StPO die
Vorschrift des § 67d Abs. 2 und 3 StGB. Dogmatisch stellt die Vorschrift des §
67e Abs. 1, Abs. 2 StGB aber lediglich eine verfahrensmäßige Ergänzung des § 67d
Abs. 2 dar (Veh/Groß in: Münchener Kommentar zum StGB, § 67e Rn. 1). Deshalb
gilt über § 463 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 StPO die Anhörungspflicht des § 454 Abs. 1
Satz 3 StPO auch für die Entscheidung über die weitere Vollstreckung der
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt.
Folgerichtig gehen von einer Anhörungspflicht daher aus:
Das Bundesverfassungsgericht (a.a.O.) meint, daß bei allen Formen der
Unterbringung im Rahmen der regelmäßigen Überprüfung nach § 67e StGB der
Betroffene "in aller Regel" persönlich anzuhören ist (§§ 463 Abs. 1, 454 Abs. 1
StPO).
Dabei kommt es nicht darauf an, ob die mündliche Anhörung aus Sicht des Gerichts
sinnvoll ist, ob der Untergebrachte im Vorfeld Einwendungen gegen die
Stellungnahme der Anstalt vorgebracht hat, ob der Sachverhalt unstreitig ist
oder ob das Gericht mit anderen Verfahren erheblich belastet ist. Vielmehr dient
die mündliche Anhörung im Verfahren nach §§ 67d Abs. 2, 67e StGB dazu, dem
Gericht einen persönlichen Eindruck von dem Untergebrachten zu vermitteln (OLG
Düsseldorf, NJW 2002, 2963, 2965; vgl. auch BVerfG, Beschluß vom 16.11.2004, 2
BvR 2004/04 und BGHSt 28, 138, 141; BT-Drs. 7,550, S. 309; BGH, NStZ 1995, 610;
OLG Celle, StV 1988, 259; OLG Schleswig, NJW 1975, 1131). Die
Strafvollstreckungskammer darf sich nicht ausschließlich auf die Beurteilung
durch die Anstalt verlassen, ohne den Betroffenen, über dessen Freiheit
entschieden wird, wenigstens einmal im Laufe des Unterbringungsverfahrens
persönlich kennengelernt zu haben.
Ausnahmen sollen nur gelten, wenn die letzte Anhörung noch nicht lange
zurückliegt und der persönliche Eindruck dieser Anhörung noch fortwirkt und
nicht der Ergänzung bedarf (so z.B. OLG Düsseldorf, NStZ 1981, 437; OLG
Stuttgart, Justiz 175, 478) oder der Untergebrachte sicher einer Anhörung
verweigert (OLG Düsseldorf vom 28.07.1987, 1 Ws 428/87 = NStZ 1987, 524). Im
vorliegenden Fall hatte das Landgericht bereits dreimal, nämlich mit Beschlüssen
vom 02.10.2008, 13.03.2009 und 14.09.2009 die Fortdauer der Unterbringung
überprüft, den Untergebrachten aber in keinem Fall persönlich angehört. Dem zur
Entscheidung berufenen Richter war der Untergebrachte auch nach rund
zweijähriger Dauer der Unterbringung persönlich unbekannt.
Nunmehr weist auch das OLG Frankfurt in dem hier ergangenen Beschluß vom
25.05.2010, wie bereits im
Beschluß vom 19.03.2010, 3 Ws 230/10
, ausdrücklich und unter Verweis auf § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO darauf hin, daß
der Unterbrachte die Möglichkeit haben muß, sich zu äußern. Das OLG erklärt
damit - in Übereinstimmung mit den vorgenannten Entscheidungen anderer Gerichte
- § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO für direkt anwendbar und die mündliche Anhörung für
obligatorisch.
Das Landgericht Kassel zeigte sich hiervon unbeeindruckt und entschied ohne
mündliche Anhörung (
Beschluß vom 15.04.2010, 4 StVK 68/10
), obgleich der Untergebrachte unter Hinweis auf die einschlägige Rechtsprechung
mehrfach seine mündliche Anhörung beantragt hatte. Das persönliche Kennenlernen
des Betroffenen, über dessen Freiheit das Gericht regelmäßig entscheidet, hielt
die 4. Strafvollstreckungskammer indes für eine reine Förmelei.
Mag es auch zutreffen, daß die Entscheidung aufgrund des persönlichen Eindrucks
nicht anders ausfiele, so will es der Gesetzgeber und das
Bundesverfassungsgericht aus gutem Grund, daß der Richter, der über die Freiheit
einer Person zu entscheiden hat, sich zuvor einen persönlichen Eindruck von dem
Betroffenen verschafft, da anderenfalls die Gefahr besteht, daß der Betroffene
zum reinen Objekt des Verfahrens wird. Die 4. Strafvollstreckungskammer des
Landgerichts Kassel zieht es jedoch vor, erhebliche Zeit und Energie in die
Fertigung von Beschlüssen und Verfügungen zu investieren, in denen dem
Betroffenen ausführlich auseinandergesetzt wird, weshalb man ihn nicht sehen
will, statt sich auch nur fünf Minuten Zeit für eine persönliche Anhörung zu
nehmen.
In einer Zwischenverfügung hatte der zuständige Richter der 4.
Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kassel darauf hingewiesen, er könne
schon aus zeitlichen Gründen keine mündlichen Anhörungen durchführen.
Schließlich sei er neben seinen übrigen Verpflichtungen für die gesamte
forensische Klinik zuständig. Sollte man die Stellungnahme als einen Hinweis auf
einen systematischen Verzicht auf Anhörungen verstehen dürfen, wäre das im
Hinblick auf die Entscheidung des
Bundesgerichtshofs vom 24.06.2009, 1 StR 201/09
, eine problematische Haltung.